Von Hatespeech bis Hate Crime. Wo verlaufen die Grenzen der Gesinnungs- und Meinungsfreiheit?
- 13.11.2020
- Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen sind ein wiederkehrendes Thema in rechtsstaatlichen Demokratien, und sie waren dies schon lange vor dem Internet und dem Entstehen sozialer Medien. Ob analog oder digital: Immer steht der demokratische Verfassungsstaat vor der Frage, wo die Grenze geschützter Grundrechtsausübung verläuft und wie sie im konkreten Fall zu ziehen ist. Dass subjektive Rechte zugunsten anderer Schutzgüter eingeschränkt werden, ist in einer rechtsstaatlichen Ordnung nichts Besonders – im Gegenteil, grundsätzlich müssen alle Rechte einzelner beschränkbar sein, weil das demokratische Miteinander auf einem Ausgleich widerstreitender Interessen und der sie verkörpernden Rechte aufbaut. Diese Notwendigkeit von Beschränkung und Ausgleich fällt bei der Meinungsfreiheit besonders ins Auge, weil diese ein Grundrecht auf Provokation umfasst: Die Freiheit, eigene Wertungen als Meinung zu äußern, schließt das Recht ein, andere scharf zu kritisieren und zu provozieren. Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen, sondern gerade auch Kritik, die grundlos, pointiert, polemisch und überspitzt geäußert wird. Wenn scharfe Angriffe heute mitunter schon als ‚Hass‘ gewertet werden, kann Hass also nach der Verfassung sehr wohl eine Meinung sein. Das Grundrecht kann nach Art. 5 Abs. 2 GG vor allem durch ‚allgemeine Gesetze‘ beschränkt werden, also durch gesetzliche Regelungen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richten, sondern dem Schutz anderer Rechtsgüter dienen. Auf dieser Grundlage zieht der Gesetzgeber der freien Meinungsäußerung Grenzen, indem er zum Beispiel die Beleidigung, Verleumdung oder die Volksverhetzung unter Strafe stellt. Wenn ‚Hate Speech‘ etwa diese Straftatbestände erfüllt, kann sie verboten und staatlich sanktioniert werden. Entscheidend ist bei der Bewertung einer Meinungsäußerung aber stets, wie und in welchem Kontext sie getätigt wurde. Der demokratische Rechtsstaat muss verhältnismäßig reagieren und bei der Deutung einer Äußerung sowie bei der Abwägung mit kollidierenden Rechtsgütern immer den hohen Wert der Meinungsfreiheit berücksichtigen. In der gerichtlichen Praxis geht beispielsweise der Schutz der persönlichen Ehre in der Regel vor, wenn die Meinungsäußerung die Menschenwürde einer Person angreift oder eine persönliche Schmähung enthält, wenn also die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Bei sonstigen Äußerungen kommt es etwa darauf an, ob es um eine private Auseinandersetzung oder eine öffentliche Debatte geht: Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten („Soldaten sind Mörder“). Erfolgt die Äußerung im Rahmen einer hitzigen Auseinandersetzung, ist ein entgleisender Ton eher hinzunehmen, als wenn dies mit längerem Vorbedacht geschieht. Auch die konkrete Verbreitung und Wirkung einer Äußerung ist zu berücksichtigen, sodass der Resonanzraum Internet die Schwelle zu einer verbotenen Äußerung tendenziell sicher eher senkt. Die Grenze ist praktisch immer erreicht, wenn mittels Bezugnahme auf nationalsozialistisches Gedankengut zum Hass gegen jüdische Mitbürger aufgestachelt werden soll, etwa wenn der Vorsitzende einer jüdischen Gemeinde im Internet als „frecher Juden-Funktionär“ bezeichnet wird. Hier wird deutlich, dass auch die Meinungsfreiheit in die historische Gesamtverantwortung der deutschen Verfassung eingebunden ist.